Ehrung für einen Musiker der Stille

zur Übergabe des Zürcher Kunstpreises an Hans Ulrich Lehmann, erschienen in der NZZ, Neue Zürcher Zeitung vom 13.09.1993

Mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich ist dieses Jahr der Komponist Hans Ulrich Lehmann ausgezeichnet worden. Die Ehrung gilt einem Künstler, der sich nicht mit spektakulären Entwürfen ins Rampenlicht stellt, sondern aus einer Position der Zurückgezogenheit heraus Musik von strenger Schönheit und gebändigter Expressivität entwirft. Anlässlich einer Feierstunde in der Tonhalle ist der Preis am Sonntag durch Stadtpräsident Josef Estermann übergeben worden.

In einer Zeit der Anbiederung, der Einschaltquoten, der Diffamierung des intellektuellen Anspruchs und des Belächelns der seelischen Sublimierung, so begann Rudolf Kelterborn im Kleinen Tonhallesaal seine Laudatio auf den Preisträger, sei es ein Lichtblick, dass die Stadt Zürich ihren Kunstpreis dieses Jahr dem Komponisten Hans Ulrich Lehmann zuerkenne. Lehmanns Musik biedere sich nämlich in keinem Augenblick an; sie stelle vielmehr höchste geistige Ansprüche, fordere subtiles emotionales Sensorium - sie sei, mit einem Wort, alles andere als mehrheitsfähig. Hans Ulrich Lehmann nahm diese Bemerkung auf - und wandte sie auf die kulturpolitische Situation in Zürich an. Als er, gebürtiger Berner und Heimwehbasler, doch bereits mit vielen Kontakten nach Zürich versehen, 1969 seinen Wirkungskreis in diese Stadt verlegt habe, hätten ihn die (verschwundene) "Musica-Viva"-Reihe der Tonhalle- Gesellschaft und die (noch immer bestehenden) Konzerte des Städtischen Musik-Podiums besonders angezogen. Dass der Kunstpreis auch in wirtschaftlich schwieriger Zeit verliehen werde und dass er jetzt gerade ihm für seine leise, unauffällige Musik zuerkannt worden sei, nehme er auch als ein Zeichen der Hoffnung - dafür, dass Kultur in Zürich nach wie vor als unabdingbarer Bestandteil menschlichen Lebens betrachtet werde und dass dies auch in Zukunft so bleibe.
Stadtpräsident Josef Estermann hatte, nachdem Walter Grimmer vier Stücke aus Lehmanns "Esercizi" für Violoncello solo (1989) gespielt hatte, seine Begrüssungsworte in ähnliche Richtung gehen lassen. Lehmann habe Tätigkeiten in der und für die Oeffentlichkeit nie gescheut. Seit sechzehn Jahren wirke er, integer und integrierend, als Direktor von Konservatorium und Musikhochschule Zürich, dem Schweizerischen Tonkünstlerverein habe er als Präsident gedient. Sein Werk aber wachse in der Zurückgezogenheit, vermittle Botschaften aus der Stille; hier schaffe ein Komponist Zeit gegen die Zeit, Ordnungen gegen das Chaos der Oberfläche. Dass das heute, zwischen der beständigen akustischen Berieselung und der megalophonen Beschallung, auch wahrgenommen werde, das halte er für bedeutsam.
Beide, der Stadtpräsident wie Rudolf Kelterborn, beriefen sich auf einen Text Lehmanns, der Anfang dieses Jahres unter dem Titel "Nuancen und Details" in der Beilage "Literatur und Kunst" dieses Blattes erschienen ist. Der Komponist hatte dort beschrieben, wie er beim Hören von Musik Einzelheiten kleinster Art, Veränderungen in einem einzelnen Akkord, Modifikationen in der Instrumentation wahrnimmt - und wie er beim eigenen Komponieren in eben dieser Weise vorgeht. In seiner Laudatio führte Kelterborn, ein langjäehriger Freund des Preisträgers, Komponist und Konservatoriumsdirektor wie dieser, Lehmanns Ansätze weiter. Er zeigte, wie Lehmanns Musik in der Konzentration auf das einzelne auch den grossen Bogen findet, wie sie bei aller Komplexität im Strukturellen und aller Fundierung in der Reflexion auch direkte emotionale Wirkung erzielt. Kelterborn sprach dabei von "Tantris", einem Stück für Sopran, Flöte und Violoncello von 1976/77, das vor seiner Ansprache durch Kathrin Graf, Anna-Katharina Graf und Walter Grimmer vorgetragen worden war. Später ging er auf "ut signaculum" ein und erläuterte anhand dieser Partitur von 1991/92, wie vielschichtig Lehmann Text zu vertonen und wie reichhaltig er die menschliche Stimme einzusetzen weiss. Das Stück für Sopran, Bariton und kleines Orchester stosse in mancher Hinsicht in neue Dimensionen seiner Handschrift vor; es sprenge den Rahmen des Intimen, das Lehmann in seinen eigenen Werkkommentaren gern in den Vordergrund stelle. "ut signaculum", ein Kompositionsauftrag der Pro Helvetia, ist vor wenigen Monaten beim Basler Musik-Forum zur Uraufführung gekommen - und Kelterborn rief dazu auf, das Werk des Zürcher Kunstpreisträgers möglichst bald auch in Zürich vorzustellen.

Vor dem dritten Beispiel aus Lehmanns Schaffen, vor "striking-stroking" für einen Schlagzeuger (1982) mit Isao Nakamura, kam es zur Preisübergabe, zum offiziellen Händedruck mit dem Stadtpräsidenten und den Danksagungen - auch an die Interpreten dieser gut besuchten sonntäglichen Feierstunde: an Freunde, die Lehmann in Zürich gefunden hat und die dem Komponisten seit langem zur Seite stehen. Von den menschlichen Begegnungen in dieser Stadt war viel die Rede in Lehmanns Dankesworten - und von James Joyce, einem anderen Wahlzürcher, dessen Texte den Komponisten immer wieder beschäftigen: auch jetzt wieder, da er an einem Stück für die Tonhalle schreibt.

von Peter Hagmann