Gerade-Noch-Klänge
Zum Tod des Schweizer Komponisten Hans Ulrich Lehmann
„Nach(t)klänge“ hiess ein spätes Streichquartett, das Hans-Ulrich Lehmann 2008 für das Galatea-Quartett schrieb. Es ist ein typisches Werk für diesen Komponisten, der am 26. Januar in Zürich gestorben ist. Es besteht aus feinen, aufmerksam ausgehörten Klängen, aus Fast-Nichtklängen oder eher Gerade-Noch-Klängen, die aber unvermittelt herb, ja ungewohnt heftig ausbrechen konnten. Es waren auch Nachtklänge, ungemein fein ausgehört, in der Nacht, wenn man besonders aufmerksam hinhört, Klänge im Nachhinein, wenn der Ton vorbei scheint und doch noch klingt.
So klang seine Musik schon früher, ähnlich und doch anders, damals in den 70er Jahren, als ich ihn kennenlernte. Da gab es ein Streichsextett, das mit einem tiefen geräuschhaften, extrem langsam und vor allem fast ohne Druck zu spielenden leisen Ton des zweiten Cellos beginnt. Es setzt schon unauffällig ein, während die Leute klatschen oder die anderen Instrumente gestimmt werden. Nach einer halben Minute erst treten in diesem ersten, fast regungslosen Ton kleine Unregelmässigkeiten, Unebenheiten auf. Geräusche entstehen. Das erste Cello gesellt sich hinzu. Zuckungen treten auf, Quetschgeräusche, manchmal instabil, manchmal auch etwas härter, fast harsch. Allmählich folgen die anderen Instrumente des Sextetts. Schleppend fast entwickelt sich die Musik – da streicht der erste Cellist einen Kartonstreifen an, den er zuvor zwischen die Saiten geklemmt hatte, zieht ihn langsam hervor und schliesslich weg. All das ergibt ungeahnte Klang- und Geräuschfarben. Ein Reichtum entfaltet sich an einem Ort, an dem man nur Undifferenziertes erwartet hatte. „…zu streichen“ heisst das Stück von 1974. Ganz einfach.
Ähnlich einfach – „tasten“ – heisst ein Klavierstück von 1972. Mit einer tiefen, etwas undeutlichen Geste beginnt die linke Hand im Pianissimo. Die rechte setzt mit der Sekunde e-f an, wiederholt sie sanft. Ja, wenn man das hören könnte! Denn nur die Spielbewegungen sind wichtig, nichts soll vorerst erklingen. Erst allmählich klingt der eine oder andere Ton an, wie unbeabsichtigt. Wenn beide erklingen, erstarrt die Musik. Es folgt ein ähnliches Ausprobieren auf einem anderen Ton. Die Musik wird ertastet, an der Hörschwelle, wo fast nichts oder nichts zum Klingen kommt.
Ich lernte ihn im Herbst 1975 kennen, als ich seine Einführungen in die zeitgenössische Musik an der Universität Zürich besuchte. Kurt von Fischer, bei dem Lehmann Musikwissenschaft studiert hatte, lud ihn 1969 ein, den angehenden Musikwissenschaftlern die Neue Musik näherzubringen. Analysiert wurden Stücke von Webern, Messiaen, Boulez, Stockhausen, Cage, Feldman, Brown, Ligeti, Kagel, Lutoslawski, der Kanon der Avantgarde. Und das war ungemein spannend, weil Hans Ulrich Lehmann diese Musik aus persönlicher Erfahrung vorstellte. Er zählte nicht nur die Reihen durch und untersuchte die Akkorde, sondern auch den Ausdruck, die Geste, das Espressivo darin. Wir wurden zur Neuen Musik geführt und auch ein wenig verführt, mit Bedacht, aber auch auf kritische Weise, denn Hans-Ulrich Lehmann streute gelegentlich ironische, ja bissige Aperçus ein. Neue Musik war hier nichts Heiliges, sondern eine Entdeckungsreise.
Einmal wünschten wir Studenten, auch eines seiner Stücke im Unterricht zu analysieren. Er gab uns die Partitur von „tantris“, nach einem Text von James Joyce, Worte über jenen verlorenen Sänger Tristan-Tantris im fernen Land. Verkleidet und mit dem verdrehten Namen „Tantris“ ging er zur irischen Königin Isolde, weil er wusste, dass nur sie ihn heilen konnte. Die Themenwahl war bezeichnend, es ging in seiner Musik, verborgen oft, auch um Liebe, um Sehnsucht, um Heilung. Wir vertieften uns also mit Ambition in das Stück, spürten den Klangnüancen nach, den Farbmischungen, den typischen Lehmannschen Gesten, fein sich auf einen Ton hin bewegenden Linien zum Beispiel. Wir stellten das im Unterricht vor, blieben aber erfolglos, was das Kompositionssystem, die Konstruktion angeht – was Hans Ulrich Lehmann äusserst zufriedenstellte. Dass auch seine Studenten kein System herausfanden, freute ihn, denn er brauchte keines. So führte er uns auch in den Klassikern zielsicher zu den kleinen Regelbrüchen. Er hatte mit den fixfertigen Methoden abgeschlossen.
Natürlich hatte er sie studiert, Konstruktion und Dekonstruktion Nach seiner Ausbildung am Cello und zum Theorielehrer hatte der 1937 in Biel geborene Lehmann in den Jahren 1960-63 die Meisterklassen von Pierre Boulez und Karlheinz Stockhausen in Basel besucht, was ihn zutiefst prägte: Serielle Musik, Aleatorik, Klangerweiterung bis hin zum Geräusch, graphische Partituren. All das. Einigen Niederschlag fand dies in seinen frühen Kompositionen. Manches davon bezeichnete er später zuweilen beiläufig-ironisch als Scharlatanerie, worauf wir widersprachen. Er entwickelte bald schon ein Misstrauen gegen die Systeme, gegen das, was man so macht. Und suchte deshalb den Weg ins Innere des Klangs, auf seine Weise: Kein Zurück zu alten Ufern, wie es damals schon einige seiner Kollegen vormachten, sondern ein Hinein in den Klang. Die beiden erwähnten Kompositionen, „tasten“ und „…zu streichen“, deuten schon im Titel an, dass es um etwas Grundsätzliches ging, darum, den Tönen auf den Grund des Ertönens zu gehen. Das war eine experimentelle Klangrechereche – und doch mehr als blosse Klangtüftelei. Es zeugte von höchster Sensibilität im Leisen – was zuweilen zu einer Obsession wachsen konnte: dass er das Laute fast nicht mehr ertrug und es deshalb mied. Bei seinen Kompositionen handle es sich, so schrieb er einmal, „vorwiegend um verhaltene, stille und leise Musik, die zum genauen Zuhören zwingt, zum Hinhören aufs Details“. In einer solchen Formulierung schwang noch etwas von der Unbedingtheit der Avantgarde mit. Später hat er es freundlicher gesagt: Es gehe ihm um eine Musik, die in ihren besten Momenten den Augenblick festhalten und zum Verweilen bringen könnte, um eine Musik, die sich in eben diesem Augenblick erfüllen würde.
Diese Hinwendung zur Stille hatte zuweilen auch etwas von einem Rückzug ins Innere. Einige Stücke klingen so seltsam spröde, fast unnahbar, obwohl sie deutlich in seiner Tonsprache sprechen, aber sie wollen nicht recht aufblühen, so als wollten sie es tatsächlich nicht. Das fällt gerade im Gegenzug zu jenen Stücken auf, in denen der Klang aufblüht, auf zarte Weise, so zart, dass man zuweilen nicht sofort erkennt, von wo eine Klangnüance stammt und wie sie entsteht. So in der „Kammermusik II“ für kleines Orchester, einer orchestralen Kammermusik also, so in den Liebesliedern zu Marc Chagalls Glasmalereien im Zürcher Fraumünstern: „Lege mich wie ein Siegel auf mein Herz“ für Sopran, Flöte, Klarinette und Violoncello; geistliche Sinnlichkeit. Und so auch spät in der „Apparition“ für Sopran und Orchester nach dem Gedicht von Stéphane Mallarmé. Eine Vision. Drei Beispiele aus seinem langsam, aber stetig gewachsenen Oeuvre. Darin wird deutlich: Seine Musik war nicht ertüftelt, nicht einfach nur fein ausgehört, sondern Ausdruck, starker Ausdruck. „Innere Glut“ wie sein Komponistenkollege Rudolf Kelterborn einmal sagte. Unerwartet heftig konnte sie ausbrechen, ganz selten, wie eben in den „Nach(t)klängen“ oder etwa in dem frühen Bläsertrio „Tractus“ von 1971. Eine Wut ist darin zu spüren. Das meiste in dieser Musik ereignete sich jedoch im Feinstofflichen, im Mikroskopischen fast.
Man hätte sich ein grosses Stück von ihm gewünscht, etwas, das über die eher kleinformatigen Stücke hinauswüchse und weiter reichende Bedeutung gewänne. Und man fragte sich, ob es nicht dazu kam, weil Hans Ulrich Lehmann sich gleichzeitig anderen Aufgaben zuwandte. 1976 wurde er Direktor von Konservatorium und Musikhochschule Zürich und blieb in diesem Amt bis 1998. Von 1983 bis 86 wirkte er als Präsident des Schweizerischen Tonkünstlervereins, von 1991 bis 2011 als Präsident der SUISA. Er widmete sich diesen Aufgaben mit Ausdauer und Verantwortung, wirkungsvoll, denn es galt damals schon die Felder der Musik zu verteidigen und das Konservatorium zum Beispiel durch einen Abstimmungskampf zu führen. Zum Komponieren blieb daneben oft wenig Zeit. Aber es gab da wohl auch einen inneren Widerstand, einen Trotz gegen dies als zu glatt empfundenen Musikbetrieb, den Hans-Ulrich Lehmann nicht bedienen, in dem er nicht mitmachen wollte. Lieber schrieb er bemessene Stücke für Musikerinnen und Musiker, die er persönlich kannte und schätzte, als für einen anonymen Musikbetrieb, in dem man erfolgreich sein sollte. Keine Verneigung.
So liebte er auch die kleinen Texte, die so gar nicht grosssprecherisch sind. Texte von Franz Mon, Helmut Heissenbüttel und Kurt Marti - und mehrmals von e.e.cummings. Die sparsam gesetzten, verschachtelten, graphisch so enigmatischen und doch auch so einfühlsamen Gedichte des Amerikaners hat er immer wieder vertont. Zuletzt in dem kleinen Zyklus für Sopran allein, „silences“. Es war diese in sich gekehrte Stille, die in Lehmanns Musik immer wieder erscheint. Als vor einigen Jahren die Zürcher Konzertreihe „Rezital“ bei diversen Komponisten kurze Ensemblestücke in Auftrag gab, sie anonym aufführte und dann vom Publikum in einem Quiz bewerten liess, stammte eines auch von Hans Ulrich Lehmann. Dem Publikum war sein Stück wohl etwas fremd, denn es bekam keinen Preis. Aber dem mit seiner Musik Vertrauten leuchtete damals aus dieser Gruppe namenloser Stücke doch seines hervor, mit Wärme, als spreche da ein alter Freund zu einem.
von Thomas Meyer